Donnerstag, 18. April 2013

Bombay Talkies - damals und heute

Das Filmfestival von Cannes, welches Ende Mai stattfindet, hat heute das diesjährige Festivalprogramm veröffentlicht. Und oh Wunder! Es gibt einen Film namens "Bombay Talkies"!

Mit meiner Masterarbeit, die das gleichnamige Filmstudio behandelt, hat der Episoden(?)-Film von gleich vier Filmemachern (Anurag Kashyap, Dibakar Banerjee, Zoya Akhtar und Karan Johar) aber scheinbar nichts zu tun.

Vielmehr geht es um das hundertjährige Jubiläums des ersten vollständigen indischen Feature-Films "Raja Harishchandra" (1913) von Dadasaheb Phalke (1870-1944), den man vielleicht auch als den Georges Méliès Indiens bezeichnen könnte.

Zufällig habe ich genau diesen Herrn und sein Werk ausführlich untersucht. Daher folgt hier das Kapitel "Schlüsselfigur in Indien: Dhundiraj Govind Phalke" aus dem Kapitel "Die Anfänge von Film und Kino" in "Bombay Talkies": Die Entstehung des Bollywoodstudiosystems" samt aller 29(!) Fußnoten:

"Der allgemein als Dadasaheb Phalke (1870-1944) bekannte Filmemacher, war der erste indische Filmproduzent, der annähernd seriell Filme in einer Art Studio produzierte. Die Einbeziehung „indischer Kultur- und Geschichtstradition“[1] begann mit der Arbeit Phalkes und ermöglichte der indischen Filmindustrie langfristig eine eigene, von Hollywood unabhängige Existenz. Im Folgenden wird die Aneignung der notwendigen Fertigkeiten und damit die Karriere Phalkes erläutert.


Phalke, der aus einer Priesterfamilie stammt[2], war zunächst Schüler an der bereits erwähnten J.J.School of Arts, setzte seine künstlerische sowie medientechnische Ausbildung am Kalabhavan in Baroda fort[3] und arbeitete als „Fotograf, Szenenbildner und Drucker“[4]. Phalke war Anhänger der Swadeshi-Bewegung, die für ein eigenes Land ohne britischen Einfluss, die „Anerkennung der einheimischen Industrie […] [und] auch [für] sprachliche und kulturelle Traditionen und eine kollektive Erinnerung“[5] kämpfte. Daher produzierte er seine Filme dementsprechend dezidiert[6] für indische Zuschauer. Freilich ging es ihm nicht nur um Unterhaltung, sondern der Tradition seiner Familie entsprechend darum, religiöse Inhalte zu vermitteln. Die von ihm gedrehten Filme sind daher die ersten, die sich unter dem Genre des „Mythologicals“[7] kategorisieren lassen. Inwieweit Phalkes Filme zur Etablierung einer modernen indischen Identität beigetragen haben, soll hier nicht weiter erörtert werden, kann aber an anderer Stelle nachgelesen werden[8].


Bei seinem idealistischen Streben war sich Phalke dessen bewusst, dass es in Indien zu seiner Zeit weder das technische Know-How noch die entsprechenden Gerätschaften zur Filmproduktion gab. Daher reiste er mehrmals nach England und auch nach Deutschland[9], um sich dort die entsprechenden Fähigkeiten anzueignen und die zugehörigen Apparate und Materialien zu erwerben[10]. Anschließend experimentierte er mit dem vorhandenen Material und entdeckte für sich Special-Effects wie die Doppelbelichtung und die Splitscreen[11].

Mit seiner ersten importierten Kamera drehte er den Kurztrickfilm „Birth of a Pea Plant“, mit dem er einen Geldgeber, Yeshwant Nadkarni[12], den Besitzer eines Fotografiegeschäfts, zur Verleihung von 10.000 Rupien animierte, als Sicherheit verpfändete er seine Lebensversicherung. Mit dem Geld fuhr er im Frühjahr 1912 für zwei Wochen nach London, England, wo er die nötigen Apparate und Materialien zur Erstellung von Filmen kaufte und sich ein Bild von der kommerziellen Produktion von Filmen machte[13]. Schließlich gelang ihm, noch im selben Jahr, als „Kameramann, Regisseur und Cutter in einer Person“[14] mit einem Budget von 15.000 Rupien[15] die Produktion von „Raja Harishandra“. Die Geschichte des Königs Harishandra ist eine Episode aus dem Mahabharata, neben dem Ramayana der Urtext der Hindureligion, die jedem Inder seit Jahrhunderten in oraler Überlieferung bekannt ist[16].

Der Film wurde Anfang des Jahres 1913 im „Coronation Cinema in Bombay“[17] uraufgeführt und vom indischen Publikum mit Begeisterung aufgenommen[18]. Mit diesem ersten mythologischen Film eröffnete sich dem Publikum eine neue Form der Wahrnehmung, des Erkennens, der Emotionen und der indischen Moderne[19]. Auch in den folgenden Produktionen verarbeitete Phalke, wie in seiner Vision geplant, indische Mythen, deren Handlung und Charaktere dem lokalen Publikum bekannt waren, im Gegensatz zu den Charakteren der importierten, westlichen Filme, die zwar unterhaltend, aber bezugslos blieben. Die Auswirkungen dieser „Lebendigmachung“ des hinduistischen Pantheons auf der Leinwand ging so weit, dass als der Gott Rama in „Lanka Dahan“ („Lanka in Flammen“, 1917) und der Gott Krishna in „Krishna Janma“ („Die Geburt Krishnas“, 1918) auf der Leinwand erschienen, sie von den Zuschauern im Saal auf Knien angebetet wurden[20]. Beide Filme werden ein ganzes Jahrzehnt[21] lang landauf, landab aufgeführt, wobei die einzelnen Kopien bis zum Verfall des Materials gezeigt wurden. Der einzige fast vollständig erhaltene Film von Phalke ist „Kaliya Mardan“ („Die Kindheit Krishnas“, 1919)[22].


Nach der Produktion und gewinnbringenden Vorführung von „Rajah Harishandra“ verlegte Phalke seine Produktion von Bombay nach Nasik, wo er unter dem Label „Phalke Films“ alle weiteren Filme produzierte: seine ganze Familie lebte und arbeitete dort mit ihm[23], alle anderen Mitwirkenden wohnten ebenfalls vor Ort. Das erste „Studiogelände“ Indiens bestand aus einem dreistöckigen Gebäude mit mehreren einstöckigen Annexen, umgeben von einigen Hektar Land. Auf dem Grundstück befanden sich Wälder, Hügel, Felder und Höhlen, die als Hintergründe für Landschafts- bzw. Außenaufnahmen dienten – alle Innenaufnahmen wurden in offenen Sets im Garten hinter dem Haus, teilweise unter Zuhilfenahme von Reflektoren, bei Tageslicht gedreht. 1914 fuhr Phalke abermals nach London und führte dort drei Filme, u.a. „Rajah Harishandra“, bei Bioscope[24] vor potentiellen Interessenten vor. Die anschließende Besprechung der Filme verlief durchweg positiv, allerdings verhinderten der erste Weltkrieg und Phalkes Patriotismus eine engere Zusammenarbeit[25].

1917 wurde aus „Phalke Films“, unter Einbeziehung von fünf Geschäftspartnern, die „Hindustan Cinema Films Company“. Hier produzierten Phalke und andere Regisseure ca. 44 Stummfilme und bauten einen eigenen Vertrieb in Bombay und Madras auf[26]. Nach Differenzen zwischen Phalke und seinen Partnern ging er 1919 nach Benares, wurde aber 1922 wieder zur Hindustan Film Company zurückgelockt, wo er noch einige Filme produziert. Dabei rieb er sich an Budgetkontrollen, Veröffentlichungsterminen und anderen neuen Konventionen, weshalb er sich schließlich 1934 ganz zurückzog. 1944 starb er verarmt in Nasik, doch er „hinterließ ‚Bollywood’ ein reiches Erbe“[27], sein Konzept gibt einen Weg vor, der die indische Filmproduktion für viele Jahre dominieren sollte[28].

Der 1966 eingerichtete Filmpreis „Dadasaheb Phalke Lifetime Achievement Award[29] ist die höchste Ehrung, die einem Filmschaffenden in Indien verliehen werden kann. Er wird seit 1969 jährlich im Rahmen der Nationalen Film Awards verliehen. Preisträger, die im Rahmen dieser Arbeit eine Rolle spielen, waren Devika Rani (1969) und Ashok Kumar (1988)."

Fußnoten
[1]Kobe: „Einleitung“, S.10.
[2]„Phalke, was born of a priestly family […] Comitted by birth to be a shastri, a learned men, he was trained for a career as Sanskrit scholar“, Barnouw / Krishnaswamy: „Indian Film“, S.10.
[3]Dharap: „Dadasaheb Phalke“, S.33f.
[4]Rajadhyaksha: „Indien: Von den Anfängen bis zur Unabhängigkeit“, S.366.
[5]Ebd.
[6]„Meine Filme sind Swadeshi, weil das Kapital, der Besitz, die Angestellten und die Geschichten Swadeshi sind“, Phalke zitiert in ebd.
[7]„The films introduced the mythological genre to Indian cinema, allowing him to merge his notion of Swadeshi with an industrial practice and a politico-cultural aesthetic.“, Rajadhyaksha / Willemen: „Encyclopedia of Indian Cinema“, S.177.
[8]„Its [the books] more general efforts is to shed some light on the role that the cinema played within modernisms, respectively of Indianness, and of the relationship that existed between these modern identity constructions“, Schulze: „Humanist and Emotional Beginnings of a Nationalist Indian Cinema“, S.13.
[9]Um die Technik des Drei-Farben-Drucks in seinem Druck-Unternehmen zu etablieren, macht er 1909 eine erste Reise nach Deutschland, wo er die entsprechenden Gerätschaften, und die Anleitung zu deren Handhabung, erwirbt. Dharap:„Dadasaheb Phalke“, S.34.
[10]„My films are Swadeshi in the sense that the capital, ownership, employees and the stories are Swadeshi. The material and the equipment required for the factory (studio) are simply not available at any cost, they are all foreign. […] I had been abroad thrice. Yes, I have a desire to go there for a forth time, as it is necessary. There is no end to observation, education and self-improvement.“ Phalke zitiert in ebd., S.40.
[11]„Like […] Georges Méliès, Phalke was a special-effects genius. He explored […] animation […] experimented with color, via tinting and toning […] He used scenic models“, Barnouw / Krishnaswamy: „Indian Film“, S.19.
[12]„Raised finance from Yeshwant Nadkarni, a photographic equipment dealer, with short trick film, Birth of a pea plant, shooting one frame a day to show a plant growing.“, Rajadhyaksha / Willemen: „Encyclopedia of Indian Cinema“, S.177.
[13]„Phalke […] purchase[d] the best available Williamson camera, printing machine, perforator and some raw negative film. Cabourne also introduced him to Cecil Hepworth, […] who gave Phalke valuable advice and allowed him to see all departments of filmmaking.“, Dharap: „Dadasaheb Phalke“, S.36f.
[14]Haas: „Der indische Film“, S.129.
[15]Barnouw / Krishnaswamy: „Indian Film“, S.22
[16]„The story from the Mahabharata, was known to every Indian via uncounted centuries of oral tradition.“, ebd., S.12, (kursiv im Original).
[17]Ebd., S.14.
[18]„’Raja Harishandra’ was widely praised by the Press and ran initially for a record 23 days or six times the normal run of films.“, Dharap: „Dadasaheb Phalke“, S.38.
[19]„Phalke’s first long narrative film Raja Harischandra was an experience that entered the lifeworlds of its Indian spectators and exerted an exciting new impulse on their perception, cognition, emotions and their moralities vis-à-vis Indian modernity“, Schulze: „Humanist and Emotional Beginnings of a Nationalist Indian Cinema“, S.15.
[20]„The impact was overwhelming. When Rama appeared on the screen in Lankha Dahan and when in Krishna Janma Lord Krishna himself at least apppeared, men and women in the audience prostrated themselves before the screen.“, Barnouw / Krishnaswamy: „Indian Film“, S.15, (kursiv im Original)
[21]„Lanka Dahan and Krishna Janma remained in circulation for over a decade“, ebd., S.16, (kursiv im Original).
[22]Vgl. Usai: „Light of Asia“, S.102.
[23]„The family included Dadsaheb Phalke, Kaki Phalke, their five sons and three daughters, and relatives. All the children at one time or another appeared in Phalke films. Kaki Phalke, the mother, loaded and unloaded the camera, rushed film to the laboratory - a portion of the kitchen area – and supervised all laboratory work […] she also supervised the cooking for the entire company.“, Barnouw / Krishnaswamy: „Indian Film“, S.18.
[24]„The proprietor of the Bioscope arranged a showing for a film industry group. […] [They] treated Phalke with considerable respect and he was grateful for the attention he received“, ebd., S.20.
[25]„Phalke […] did arrange the trade shows of his pictures […] the British Press unanimously praised his efforts […]. He was even invited to produce a film in England. But Phalke refused these offers, wanting Indian capital and Indian labour to produce Indian movies.“, Dharap: „Dadasaheb Phalke“, S.39f.
[26]Vgl. Ganti: „Bollywood“, S.10.
[27]Rothermund: „Indien“, S.277.
[28]„The Phalke enterprise thus set a pattern that was to dominate Indian film production for several decades.“, Barnouw / Krishnaswamy: „Indian Film“, S.18.
[29]Ganti: „Bollywood“, S.10.

Mittwoch, 17. April 2013

Der indische Diamantenkoffer

Neulich im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover - hübsch und witzig, kaum Klischee behaftet, aber historisch entschuldigt:
Nick Knatterton, noch zu sehen bis 21.4.2013.

Ebenfalls dort und absolut bezaubernd: der Grüffelo.

Mittwoch, 10. April 2013

Der Buddha aus der Vorstadt

"Dad und Anwar hatten in Bombay Tür an Tür gelebt und waren seit ihrem fünften Lebensjahr die besten Freunde. Dads Vater, der Arzt, hatte am Juhu-Strand für sich, seine Frau und seine zwölf Kinder ein wunderschönes flaches Holzhaus gebaut.[...] Dad [war] von seiner Familie nach England geschickt worden, um dort zu studieren. Seine Mutter hatte ihm und Anwar einige wollene, kratzige Unterhemden gestrickt, ihnen beim Abschied von Bombay zugewinkt und sie schwören lassen, niemals zu Schweinefleischessern zu werden. Wie vor ihm Gandhi und Jinnah sollte Dad als geschickter englisch diplomierter Rechtsanwalt und vollendeter Tänzer nach Indien zurückkehren. [...]
London und die Old Kent Road waren ein eiskalter Schock für Anwar und Dad. Es war naß und neblig; Dad nannte man Sunny Jim, es gab nie genug zu essen; und Dad hat es nie geschafft, Geschmack an Bratenfett auf Brot zu gewinnen. 'Schmeckt wie Nasenpoppel', hatte er gesagt und damit den Bann über das Nationalgericht der Arbeiterklasse verhängt. [...]
Dad und Anwar hatten Glück; sie kannten jemandem bei dem sie wohnen konnten. Dr. Lal, ein Freund von Dads Vater, war ein indischer Zahnarzt von riesenhaftem Wuchs und, so behauptete er, ein Freund von Bertrand Russell. [...]
Mit seiner dicken Wampe und seinem runden Gesicht war Anwar schon immer etwas plumper gewesen als mein Vater.[...] Sie nannten ihn Baby Face. [...] Wenn der monatliche Wechsel aus Indien eintraf, ging Dad sofort in die Bond Street, um sich Frackschleifen, flaschengrüne Westen und Socken mit Schottenmuster zu kaufen, und danach war er gezwungen sich von Baby Face Geld zu leihen. Tagsüber studierte Anwar Luft- und Raumfahrttechnik im Norden Londons, und Dad versuchte, sich hinter seinen juristischen Büchern zu vergraben. Nachts schliefen sie zwischen den Apparaturen in Dr. Lals Behandlungszimmer."

Kureishi, Hanif: "Der Buddha aus der Vorstadt", Hamburg 2005 (2010), S.38ff.